In der völlig überfüllten Fahrzeughalle des Messinger Feuerwehrhauses standen Zuhörer auf den Freiflächen, der Feuerwehrnachwuchs saß auf den Treppenstufen. Rund 200 Interessierte aller Altersgruppen zählten die Organisatoren des Heimatvereins und der Jugendfeuerwehr Messingen. Sie alle wollten Erna de Vries erleben. Erna de Vries, wohnhaft im emsländischen Lathen, wurde 1923 in Kaiserslautern als Tochter eines evangelischen Christen und einer jüdischen Mutter geboren und im jüdischen Glauben erzogen. Als ihre Mutter 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, ging Erna de Vries freiwillig mit.
„Sie wollen wirklich mit nach Auschwitz?“, habe der Gestapo-Mann sie verständnislos angeschaut. „Ja“, ist sich die damals 19-Jährige sicher. Sie will ihre verwitwete Mutter nicht allein lassen. „Meine Mutter war darüber sehr unglücklich, sie hat mir Vorwürfe gemacht“. Der Todesblock 25 im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau galt als Ort ohne Wiederkehr. Häftlinge, die hier untergebracht waren, wurden kurz darauf in den Gaskammern ermordet. Zehntausende fanden so den Tod. Erna de Vries ist eine von wenigen Frauen, die überlebten. Mit ihren mittlerweile 93 Jahren erzählt sie so oft wie sie kann von ihrem Leben vor dem Hintergrund ihrer Holocausterfahrungen in Auschwitz-Birkenau.
„Auschwitz, das war immer Brüllen und Schlagen.“ Auf ihrem Weg zur Arbeit müssen Mutter und Tochter mit anderen Frauen täglich an zwei Krematorien in Auschwitz-Birkenau vorbeigehen. „Wir sahen dort Berge von Leichen.“ Die junge Erna zieht sich eitrige Entzündungen an den Beinen zu, kommt in den Todesblock für Frauen.
„Ich wollte noch einmal die Sonne sehen“. Als Erna de Vries diesen Wunsch äußert, scheint bereits alle Hoffnung verloren. Die 19-jährige Halbjüdin sitzt auf dem Boden des Todesblocks in Auschwitz-Birkenau. Eine Nacht muss sie dort verbringen in der sicheren Gewissheit, am nächsten Morgen ermordet zu werden. Beim Verladen der Frauen auf die LKW herrscht Panik. Unter schreienden und wehklagenden Frauen ruft ein SS-Mann ihre auf dem Arm eintätowierte Nummer auf – die Rettung. Erna de Vries entkommt dem unmenschlichen Schicksal, da Halbjüdinnen als Arbeiterin im Konzentrationslager Ravensbrück benötigt werden. „Wenn er zehn Minuten später gekommen wäre, wäre ich ins Gas gekommen“, schildere de Vries. Vor dem Abtransport nach Ravensbrück kann sie sich noch von ihrer Mutter verabschieden. „Wir gingen über die Lagerstraße mit dem Wissen, dass wir uns nie wiedersehen.“ Trotz der Todesahnung sei die Mutter aber auch zuversichtlich gewesen. Alles andere als Auschwitz könne nur besser sein, habe sie gesagt und ihr Mut zugesprochen. „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.“ Und diesen Auftrag hat Erna de Vries wieder einmal mehr im Messinger Feuerwehrhaus eindrucksvoll erfüllt. „Ich hoffe, dass etwas hängen bleibt, wenn wir nicht mehr da sind“, sagt Erna de Vries zu den jungen Leuten – und dass sie sich über jeden Tag freut, an dem sie noch einmal die Sonne sehen kann.
Die Überlebensgeschichte dieser mutigen Frau wurde für alle Zuhörer ein Stück weit fassbar, ebenso wie die sprachlos machenden Verbrechen der Nationalsozialisten. Ihre lebendige und aufrichtige Art der Schilderung ihres Lebens in der Verfolgung und ihre Offenheit in der anschließenden Fragerunde ließ das Ziel des Zeitzeugenabends ein gutes Stück weit näher rücken: nicht zu vergessen, was passiert ist, sich der daraus erwachsenden historischen Verantwortung im ‚hier und heute‘ zu stellen und so aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen.
Dass de Vries dies mit ihren 93 Jahren bei den Zuhörern erreicht hat, spiegelte sich nicht nur in dem großen Applaus, sondern auch in den umfangreichen Spenden für das Projekt ‚Bäume für Israel‘ wider, wofür de Vries als Zeichen der Solidarität für Israel warb.
Ursula Kottebernds als Vorsitzendes des Heimatvereins und der stellvertretende Jugendfeuerwehrwart Simon Dreishing überreichten abschließend kleine Dankespräsente. Bürgermeister Ansgar Mey dankte de Vries für ihr großartiges Engagement und den beiden Messinger Einrichtungen für die aktive Initiative gegen das Vergessen.
Bericht: Klaus Smit